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Zeit­sprung

Interview mit Alexander Rutz Nils Hörrmann

Unsere Umgebung verändert sich. Mal unmerklich, mal ganz offentlichtlich. In seinem Projekt Zeitsprung bringt Alexander Rutz das Gestern und Heute der Stadt Weimar fotografisch zur Deckung.

Nils: Wie entstand die Idee zu den fotografischen Zeitsprüngen durch Weimar?

Alex: Nachdem ich bereits zehn Jahre in Weimar wohnte, habe ich zufällig erfahren, dass eine ganze Häuserzeile, die ich immer als historisch betrachtet hatte, eine Rekonstruktion aus den späten Achzigerjahren war. Das war die Initialzündung einmal genauer hinzuschauen, was alles in der Stadt vernichtet worden ist. Dabei fiel mir auf, dass nicht nur die Nazibauten und der Krieg, sondern auch die rigorosen DDR-Sanierungen” durch Abriss große Lücken in die Stadt gerissen haben. Ich wollte mehr darüber erfahren und begann, historische Fotos von Weimar zu sammeln.

Beim Anblick der alten Aufnahmen fragt man sich immer sofort, wie das wohl heute aussieht. Da habe ich mich an die Vorher-nachher-Überlagerungen erinnert, die es zu verschiedenen Themen im Netz gibt, und versucht die historischen Motive aus gleicher Perspektive nachzuschießen. Das klappt bei manchen Motiven auf Anhieb, bei manchen ist es zum Verzweifeln.

Daraus ist die Idee zur Zeitsprung-Webseite geboren, die seitdem langsam aber sicher wächst.

Überlagerung der gleichen Straßenansicht in den Jahren 1900 (links) und 2011 (rechts).
Abbildung Die Weimarer Zeitsprünge ermöglichen es dem Besucher, historische Zeitpunkt mittels eines Schiebebalkens zu vergleichen. Hier die Mozartstraße um 1900 im Vergleich zum Jahr 2011. Alexander Rutz

Nils: Auf Twitter hast Du angedeutet, dass auch andere Ideen der Umsetzung im Raum standen, wie 3D-Rekonstruktion oder 4D-Zeitschieber. Was war der ausschlaggebende Punkt für den Einsatz der Schiebebilder?

Alex: Der Grundantrieb des Zeitsprungprojektes ist der Wunsch, die Bilder, die Veränderungen, im Prinzip die Vergangenheit an sich, auf eine neue Art erfahrbar zu machen. Die Vorher-nachher-Überlagerungen waren ganz pragmatisch die unkomplizierteste Methode, schnell zu schönen Ergebnissen zu kommen. Die Schiebebilder funktionieren sehr intuitiv und es gab auch ein paar fertige Skripte dazu im Netz, die ich mittlerweile aber durch ein einfacheres Konzept ersetzt habe.

Die anderen Ideen kamen erst später dazu, als aus den wenigen Bildern und Karten langsam mehr und mehr wurden. Diese sind allerdings zumeist sehr viel aufwändiger zu realisieren. Das vielleicht spannendste potentielle Projekt wäre, die gesamte Stadtentwicklung in einem zeitlich animierbaren Stadtmodell von ca. 1820 bis in die Gegenwart umzusetzen. Das grenzt jedoch an eine Lebensaufgabe, selbst wenn man Vollzeit daran arbeiten würde. Auch als 2D-Stadtplan ist das denkbar, was wesentlich einfacher umzusetzen, aber zugleich weniger anschaulich wäre.

Ein anderes, etwas kleiner gestecktes Projekt könnte die 3D-Rekonstruktion eines nicht mehr vorhandenen Stadtviertels sein. Das hat bereits jemand anderes mit der von den Nazis zerstörten Jakobsvorstadt versucht, leider ist er nicht zu erreichen, und ich kann nicht herausfinden wie weit er tatsächlich gekommen ist.

Nils: Wie findest Du die Fotos, die den Ausgangspunkt Deiner Gegenüberstellungen bilden?

Alex: Ich habe anfangs erst einmal versucht, Material zu benutzen, welches frei verwendbar ist, zum Beispiel historische Postkarten. Der Hunger nach mehr Bildmaterial hat mich (über die Vermittlung des befreundeten Fotografen Alexander Burzik) zum Stadtarchiv Weimar geführt. Der Leiter des Stadtarchivs Dr. Jens Riederer war von Anfang an sehr hilfsbereit und so habe ich die Möglichkeit bekommen, in einer sehr großen Schatzkiste zu fischen, wovon ich bisher nur sehr wenig tatsächlich für die Zeitsprünge genutzt habe. Dazu kommen diverse bei Flickr gefundene Bilder. Dort konnte ich mich jeweils direkt mit den Urhebern absprechen, die eigentlich immer sehr nett und entgegenkommend waren. Eine weitere Quelle sind eigene Bilder aus der näheren Vergangenheit, sowie nicht zuletzt die schönen Bilder des Weimarer Fotografen Claus Bach, die er netterweise zur Verfügung stellt.

Stadtkarte Weimar mit Markierungen der Zeitsprungstandorte.
Abbildung Ein Übersichtskarte ermöglicht auch die räumliche Erschließung der Fotovergleiche (Kartendaten © OpenStreetMap-Mitwirkende) Alexander Rutz, Kartendaten © OpenStreetMap-Mitwirkende

Nils: Wie gehst Du bei Deinen Neuaufnahmen vor? Die Deckungsgleichheit der Motive spielt ja eine wichtige Rolle.

Alex: Ich suche mir daheim die Motive aus und lade Sie auf meinen iPod. Dann versuche ich, vor Ort den passenden Standpunkt zu finden. Entscheidend dabei ist es, Überlagerungen von Vorder- und Hintergrund des Bildes zu finden. Wenn man dann beispielsweise am rechten Bildrand eine Überlagerung gefunden hat, muss man idealerweise am linken eine weitere finden und sich so lange entsprechend bewegen, bis es dort auch passt. Das gleiche gilt für oben und unten. Oft schieße ich dann eine Reihe Bilder, damit ich daheim etwas Auswahl habe, wenn es nicht so ganz stimmt. In besonders schwierigen Fällen drucke ich mir das Bild etwas größer aus, da der iPod als Referenz schon etwas klein ist. Besonders hilfreich ist es, die Brennweite des Originalbildes zu kennen. Wenn man diese auf das Äquivalent einer modernen Kamera umrechnet, kann man mit einem Zoomobjektiv die entsprechende Brennweite einstellen. Wählt man dann den ungefähren Bildausschnitt des Originalbildes, so hat man schon relativ genau den Abstand des Originalfotografen zum Bild. Danach muss man dann wieder nach den besagten Überlagerungen schauen.

Nils: Wie sind die Reaktionen in Weimar auf das Projekt?

Alex: Durchweg positiv. Der Bekanntheitsgrad ist noch relativ gering, aber die Seite ist immerhin schon auf der offiziellen Stadtseite Weimars verlinkt. Leider halten sich die meisten Besucher mit Kommentaren bisher zurück, ich würde mir etwas mehr Diskussion wünschen. Vielleicht nimmt das aber zusammen mit dem generellen Bekanntheitsgrad zu. Ich muss auch wieder regelmäßiger neue Zeitsprünge einsetzen, das schleift in letzter Zeit leider etwas.

Nils: Welcher städtebauliche Umbruch ist für Dich persönlich in Weimar interessanter: die Zerstörungen der Stadt durch den Krieg oder die Veränderung der Stadt in der Nachwendezeit?

Alex: Ich finde das eigentlich alles gleichermaßen spannend. Weimar hat da viel zu bieten.

Da wären erst einmal die historischen Stadterweiterungen, besonders zur Gründerzeit. Dann die einschneidenden Bauten des Nationalsozialismus, die den Weimarern den nördlichen Teil des Jakobsviertels mitsamt einem Teil des Asbachgrünzuges geraubt haben. Das ist vielen heute gar nicht mehr bewusst. Auch das Hotel Elefant wirbt mit “klassischem Charme”, ist aber von den Nazis abgerissen und als kompletter Neubau im NS-Stil mitsamt “Führerwohnung” 1936/37 neu errichtet worden.

Dann die Zerstörungen im zweiten Weltkrieg, die vergleichsweise begrenzt waren, aber doch einige zum Teil immer noch vorhandene Schneisen in die Stadt gezogen haben. Das Nationaltheater (in dem die erste Deutsche Verfassung entstand) zum Beispiel brannte völlig aus und sogar Goethes und Schillers Wohnhaus wurden schwer beschädigt.

In der DDR wurden dann viele Häuser mangels Sanierungsexpertise und Material zerstört und nur teilweise als Neubau in alter Kubatur wieder hergestellt. Es hat mich besonders erschreckt wie viele Lücken dadurch entstanden sind, die ich eher dem Krieg zugeschrieben hatte. Ein großer Teil der restlichen Jakobsvorstadt, und nicht zuletzt fast das gesamte Bornbergviertel, sind dem Abriss oder langsamen Verfall zum Opfer gefallen. Kurz vor der Wende ist sogar noch das Parkhotel, ehemaliges Wohnhaus von Johann Sebastian Bach und Geburtshaus seiner Söhne, abgerissen worden. Das ist bis heute ein Parkplatz.

Das ganze endete dann leider auch nicht vollständig mit der Wende. Auch in den Neunzigern wurden einige erhaltenswerte Gebäude für Neubauten abgerissen. Prominentestes Beispiel ist vielleicht der Abriss der ohnehin schon entstuckten “HEKA” am Theaterplatz. Dafür steht hier nun ein modernes Einkaufszentrum.

Insgesamt finde ich besonders interessant wie sich kleine Details verändern. Sei es aufgrund von Sanierungen oder einfach der voranschreitende Zerfall von Fassaden. Also Veränderungen die man mit dem Auge nicht wahrnehmen kann, die aber durch einen “Zeitraffer mit zwei Einzelbildern” erfahrbar werden.

Nils: Wenn Du fünf Jahre weiterdenkst, was wünscht Du Dir für die Zeitsprünge?

Alex: Vor allem, dass sie weiter wachsen und gedeihen und irgendwann mal eine breit gefächerte Übersicht über die Stadt und Ihre Geschichte zeigen. Dazu würde ich mir eine lebhafte Diskussion wünschen. Vielleicht könnten die Zeitsprünge sogar einmal zusätzliche Blickwinkel bei Diskussionen zu aktuellen Themen der Stadtentwicklung, wie zum Beispiel dem geplanten neuen Bauhaus-Museum, liefern.

Vielen Dank für das Gespräch, Alexander

Alexander Rutz, gebürtig aus Northeim kommend, studierte in Weimar Produktdesign und Visuelle Kommunikation. Das Projekt Zeitsprung ist unter zeitsprung.animaux.de verfügbar. Mehr von und über Alexander Rutz gibt es auf seiner Webseite animaux.de oder auf Mastodon.